präfibrotische Primäre Myelofibrose (präPMF)

Martin, *1977, präPMF seit 2021

Beitrag vom

Begonnen hat alles mit Sehstörungen, die bei mir plötzlich auftraten. Ich hatte diese von jetzt auf gleich und es zuerst auf Stress, hohen Blutdruck, einen anstrengenden Arbeitstag oder den Verdacht auf „ich brauche bald eine Brille“ geschoben.

Da mich das ziemlich nervte erzählte ich davon meiner Hausärztin, die mir direkt Blut abnahm. So ergab sich im März 2021 ein erhöhter Thrombozytenwert von rd. 600.000 pro μl Blut. Diesem Ergebnis folgte dann eine Überweisung zur Hämatologie mit dem „Verdacht auf ET“. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich keinerlei weitere Beschwerden und fühlte mich „voll im Leben stehend“ und fit.

Nachdem sich der Thrombozytenwert in der Hämatologie bestätigte, wurde kurzfristig auch eine Knochenmarkpunktion durchgeführt und meine innere Unruhe begann sich zu entwickeln. „Plötzlich wird an dir rumgebohrt….werde ich hier jetzt künstlich krank geredet? Ich bin doch fit….

Bis zum Ergebnis der KMP vergingen einige Wochen und in dieser Zeit fing ich an zu recherchieren. Ich las etwas von Blutkrebs und von annähernd normaler Lebenserwartung bei ET. Ich las aber auch, dass es eigentlich eine Krankheit von „Älteren“ sei und zog sogleich den Schluss, dass wenn ein 70-Jähriger das bekommt, seine „normale Lebenserwartung“ noch 15 Jahre bedeutet… Und eigentlich, warum ich? Niemand in meiner Familie hat sowas, ich habe nichts mit Strahlung oder Chemie zu tun. Es hat einfach nicht auf mich gepasst.

Ich rief bei allen Arztpraxen der letzten 15 Jahre an (und ich lebte in Deutschland an verschiedenen Orten) und besorgte mir dort meine älteren Blutbilder. So erkannte ich, dass bereits 2007 mein Thrombozytenwert erhöht war, zwar nur knapp über dem Referenzwert, aber immerhin. Dadurch war mir klar, dass ich wohl schon seit mehr als einem Jahrzehnt unbemerkt zu hohe Trombozytenwerte hatte und erst jetzt in den Bereich kam, indem mein Körper es nicht mehr verheimlichen konnte (Augenflimmern). Die über die Jahre gesammelten Thrombozytenwerte fügte ich in eine Tabelle ein. Aus dieser ergab sich ein Trend, nach dem ich irgendwann in 2030 die 1 Mio Thromboyzten pro μl „knacken“ würde, was dann andere Medikamente als die nun verschriebenen ASS nach sich ziehen würde. Übrigens verschwand jegliches Augenflimmern mit der ersten ASS.

Dieser Aktionismus, diese Recherche, die Hochrechnerei waren bereits ein starker Ausdruck dessen, was in meiner unterbewussten Psyche passierte. Ich war angespannt….


Die genaue Diagnose


Und dann kam der Tag mit dem Ergebnis der KMP. Gesund und munter ging ich ins KH in die Hämatologie und die Ärztin erzählte mir plötzlich etwas von mehreren Unterarten der MPN. Die ET wäre die am wenigsten anspruchsvolle, die PV sei auch noch gut behandelbar. Bei mir wäre aber eine MF diagnostiziert, das wäre nicht gut. Gut ist aber, dass diese im präfibrotischen Stadium sei und ich wahrscheinlich in den kommenden 10 Jahren noch gut damit leben könne und es dann ja auch noch Jakavi als Medikament gäbe. Aha…

Mit dem Arztbrief in der Hand tat sich vor mir ein Loch auf, über das ich heute sagen kann, dass es die heftigste Erfahrung in meinem Leben war. Ich habe die ganze Nacht hin den pathologischen Befund hoch und runter gelesen, Fachbegriffe nachgelesen und übersetzt. So bin zu dem Schluss gekommen, dass ich kein „Jahrzehnt“ mehr habe, nachdem was dort alles stand: Fibrosegrad 2, hohe Mutationslast etc.

Ich begann in dieser Nacht mir auch Gedanken zu machen, was aus meiner Familie und meinen Kindern werden soll. Eine Grenzerfahrung. Am nächsten Morgen war ich nicht arbeitsfähig.

Und dann kam die Wendung… Nachdem ich am Folgetag zum x-ten Male den Arztbrief durchlas, sah ich plötzlich in einer Ecke des Briefes einen Namen, den ich bis dato nicht sah. Dort war der Strichcode eines anderen Patienten drauf. Also jemand der am selben Tag, ja vielleicht vor mir bei der Ärztin war und dessen Kopie ich dann versehentlich erhalten hatte. Es war unglaublich! Ich tauschte dann in der Hämatologie den falschen Arztbrief um und erhielt meinen… Dort lass sich alles anders. Zwar immer noch präPMF, aber ohne Fibrose und mit einer Allel-Last von 7,5% und einem Risiko-Score von 1.

Der Schock der letzten Nacht saß aber so tief, dass mein Vertrauen weg war. Ich besorgte mir einen Termin für eine Zweitmeinung in der Charité in Berlin bei Prof. le Coutre. Bei ihm bekam ich das erste Mal etwas Sicherheit. Er klärte mich auf, dass das, was ich habe, nicht schön wäre, aber die Wahrscheinlichkeit, dass ich in den kommenden 10 Jahren an einem Autounfall versterbe, doch weitaus höher wäre… In dieser Zeit nutzte ich auch einen onkologischen psychologischen Dienst, den mir mein Arbeitgeber anonym kostenlos anbietet. Es war einfach gut, jemanden zum Reden zu haben. Gleichzeitig zeigt es aber auch, wie tief das Loch war, das sich bei einer solchen Diagnose auftut. Enorm geholfen hat mir auch, mich beim MPN-Netzwerk anzumelden und die Geschichten von anderen Betroffenen zu lesen. Hierdurch lernt man seine Krankheit einzuschätzen.

All diese Zeit führte nach und nach dazu, dass die Diagnose zwar jeden Tag präsent ist, aber doch nach und nach das normale Leben wieder zurückkommt.

Schicksalhafterweise traf ich in der Hämatologie einen Jugendfreund wieder, ebenfalls mit PMF. Wir fahren gemeinsam zu den Regionaltreffen und tauschen uns aus. Er hat mir dann auch schließlich die Uniklinik Halle empfohlen, wo ich nun einmal im Jahr bei Frau Dr. Al-Ali vorstellig werde, was ein richtig gutes Gefühl gibt. Sie hat meinen alten Arztbrief zwischenzeitlich nochmal stark entschärft und den Risiko-Score auf 0 gesetzt, mit einer exzellenten Prognose. Auch hat sie nochmal differenziert, zwischen pathologischem Bericht und Erfahrung und ist der Meinung, dass ich auch trotz des „prä“ immer noch nur ET oder PV sein oder werden kann.
Inzwischen habe ich mich auf ASS und ½ jährlichen Bluttest eingependelt und lebe damit sehr gut. Es gab seitdem aber nie mehr einen Tag, an dem ich nicht an die MPN gedacht habe. Ich weiß nun, dass die MPN bei jedem Menschen sehr individuell verläuft. Meine Hoffnung zielt auf eine langsame Entwicklung ab, verbunden mit einer schnellen medizinischen Forschung.

Stand Juni 2023