Wie alles begann
Seit Anfang 2015 hatte ich oft langanhaltende, immer stärker werdende Sehstörungen, abends Schmerzen in den Fingerendgliedern und z.T. den Zehen, manchmal auch Kopfschmerzen.
Der Augenarzt schloss eine Augenerkrankung aus und vermutete Migräne, er empfahl die Abklärung beim Hausarzt und/oder Neurologen.
Im Blutbild beim Hausarzt fielen hohe Thrombozyten-Wert auf. Ich bekam Überweisungen zum Neurologen und zum Hämatologen.
Der Neurologe diagnostizierte für Aura und Fingerschmerzen als Ursache eine Migräne. Unterstützt wurde diese Diagnose durch die Tatsache, dass meine Eltern Migränepatienten sind bzw. waren und ich als Kind ebenfalls an Migräne litt. Ein MRT des Kopfes blieb ohne Befund.
Diagnose der ET
Gleich bei meinem ersten Termin machte der Hämatologe direkt eine Knochenmarkpunktion (KMP), um die von ihm vermutete Essentielle Thrombozythämie (ET) zu bestätigen. Ich war psychisch total überfordert von der Diagnose, der dreiwöchigen Wartezeit auf den Befund der KMP und meinen Recherchen im Internet. In dieser Zeit war mir mein Mann eine große Unterstützung. Die Diagnose ET wurde bestätigt, zumal auch eine JAK2-Mutation vorlag.
Den Hinweis auf Migräne-Aura und Fingerschmerzen speicherte der Hämatologe als Migräne ab. Die Therapie bestand zunächst in Watch & Wait mit der Gabe von ASS 100. Sobald mein Thrombozyten-Wert über 1 Million läge, sollte ich Anagrelid bekommen. Ob in dieser Zeit die Symptome abklangen, weiß ich nicht mehr.
Zellreduktive Therapie
Ende November 2015 war der Wert auf über eine Million angestiegen. Seitdem nehme ich Xagrid (Wirkstoff: Anagrelid), die ersten zwei Wochen parallel mit ASS 100, bis sichergestellt war, dass der Wert wie gewünscht sank. Nach zwei Wochen hatte ich mich an die Palpitationen und die erhöhte Herzfrequenz nach der Einnahme gewöhnt. Seit Anfang 2016 hatte ich aber wieder deutlich vermehrt Migräne-Aura und tägliche Fingerschmerzen, obwohl die Thrombozyten nur bei knapp 600.000 lagen. Ohne Schmerzmittel (Ibuprofen) konnte ich nicht schlafen bzw. wurde vom Schmerz geweckt.
Die vermutete Ursache sah ich in einer Nebenwirkung des Xagrid. Nach Rücksprache mit meinem Hämatologen, setzte ich das Medikament für 1,5 Wochen ab und ging zur Abklärung eventueller anderer Ursachen zum Neurologen.
Der Neurologe befand, der Fingerschmerz habe keine neurologische Ursache und die Migräne-Aura sei nicht beeinflussbar.
Der Hämatologe wiederum sah die Symptome nicht in einer Nebenwirkung des Xagrids. Da meine Thrombozyten innerhalb dieser 1,5 Wochen wieder über 1 Million anstiegen, sollte ich das Medikament unbedingt wieder einnehmen. Den Fingerschmerz solle ich mithilfe von Schmerzmitteln (Ibu) „aussitzen“ und beobachten und erst einmal keine weiteren Fachärzte aufsuchen, um zur Ruhe zu kommen.
Hilfreiche Infos im MPN-Forum
Nach längerer Überlegung meldete ich mich im März 2016 im MPN-Forum an und erhielt prompt die Rückmeldung, dass Fingerschmerz und Migräne-Aura typische ET-Symptome sind. Seitdem ich nun weiß, dass sie typisch für ET sind, bin ich deutlich entspannter.
Zuvor hatte ich mich sehr hilflos gefühlt, da ich eine Ärzteodyssee hinter mir hatte, ohne dass man mir helfen oder konkrete Infos geben konnte. Ich machte zudem die Erfahrung, dass viele Ärzte die seltene Krankheit ET nicht kennen.
Therapie-Verlauf
Da die Symptome stärker wurden, überprüfte man Mitte 2016 meine Rheumawerte, auch aufgrund einer familiären Vorbelastung. Sie sind zwar etwas erhöht, jedoch nicht signifikant – daher keine Ursache für meine Schmerzproblematik. Der Anstieg der Migräne-Symptome sei auf beruflichen Stress zurückzuführen.
Nach einer Erhöhung der Xagrid-Dosis von 2 auf 3 täglich, aufgrund meiner zuvor wieder gestiegenen Thrombozyten-Werte, lagen diese erstmals wieder im Normbereich und die Symptome (Aura, Schmerzen) waren weg. Kommentar meines Hämatologen: „Dann lagen die Symptome wohl doch am zu hohen Thrombozyten-Wert.“
Hilfe durch eine Psychotherapie
Bis Frühjahr 2017 ging es mir körperlich gut, denn ich merkte kaum Symptome, außer gelegentlichen, erträglichen Schmerzen in den Zehen und Müdigkeit. Aber meine Psyche machte mir zu schaffen. Ich wachte jede Nacht auf, weil ich glaubte, die Einnahme eines Medikaments vergessen zu haben. Erst der Blick in den Badezimmerschrank half mir, zu erkennen, dass es kein zusätzliches Medikament einzunehmen gab. Mein Hämatologe empfahl eine Psychotherapie, um mit der Erkrankung besser umgehen und leben zu können. Eine gute Entscheidung, denn die Therapie half. Inzwischen habe ich gelernt, meine Erkrankung als einen Teil meines Selbst anzuerkennen. Sie steht nicht mehr im Vordergrund. Ausnahme: Wenn beständig Symptome auftreten oder ich mich anderweitig intensiv mit der ET befassen muss, ist sie wieder voll präsent. Am liebsten wäre mir, brav mein Medikament einzunehmen und die Quartalskontrollen zu absolvieren – und ansonsten Ruhe zu haben.
Wieder verstärkte Symptome und Dosiserhöhung
Mitte 2017 waren die Thrombozyten wieder oberhalb der Normgrenze, nämlich bei 539.000. Das ist generell für meine Hämatologen ok, für meinen Körper offenbar jedoch nicht. Ich hatte täglich 30 Minuten bis zu mehreren Stunden Schmerzen in den Füßen, an Fersen, Rist und Sprunggelenk, unabhängig von Schuhwerk, Tageszeit und Belastung. Das war eigentlich nur mit Ibuprofen auszuhalten. Die Ärzte-Odyssee begann erneut, was mich psychisch erneut deutlich belastete. Vom Hausarzt zum Orthopäden, zum Radiologen, zum Immunologen, zum Neurologen und zurück. Sonografie, Röntgen und MRT ohne Befund, weder rheumatische Erkrankung oder Sehnenentzündung noch neurologische Problematik. Insgesamt hatte ich das Gefühl, mein Körper „versagt“.
Da mein Thrombozyten-Wert Anfang 2018 weiterhin bei rund 550.000 lag, stellte mein Hämatologe mir drei Optionen zur Wahl:
- Xagrid auf 4 täglich erhöhen (also 2 mg) – sein und auch mein Favorit
- Xagrid und Litalir
- Interferon – ungünstig, da ich bereits psychisch belastet bin
Die erste Woche mit der erhöhten Dosierung von Xagrid war schwer, ich hatte täglich Kopfschmerzen und Nasenbluten. Nach drei Wochen zeigte sich der Erfolg, der Thrombozyten-Wert lag im Normbereich, ich hatte keine Symptome mehr.
Allerdings drängte sich mir die Frage auf: Was, wenn ich in einem Jahr wieder die Dosis erhöhen muss, so wie 2016? Mein Hämatologe meinte: Erst einmal abwarten. Sollte dieser Fall wirklich eintreten, muss die Medikation generell neu überdacht werden
Aktueller Stand
Mitte 2018 zeigte sich: Täglich 4 Xagrid waren zu viel, denn meine Thrombozyten lagen nur noch bei 112.000. Außerdem hatte ich Ödeme in Knöcheln und Füßen – eine Nebenwirkung des Medikaments. Also wurde die Dosis auf 3 täglich (also 1,5 mg) zurückgesetzt. Damit war ich bei der nächsten Quartalskontrolle wieder bei gut 500.000 Thrombozyten angelangt.
Ich habe seitdem wieder täglich Schmerzen in den Füßen, selten auch in den Fingern. Die Migräne-Aura taucht mehrmals pro Monat auf. Aber ich versuche, keine Schmerzmittel zu nehmen. Die Schmerzen belasten mich aber sehr.
Ein weiteres Problem ist aufgetaucht: Ich habe erhöhten Blutdruck (Nichtraucher, schlank, sportlich), eventuell als Folge der täglichen Ibuprofen-Einnahme gegen die Fußschmerzen. Die Abklärung steht noch aus.
Auswirkungen auf den Alltag
Ich bin voll berufstätig, außerdem habe ich Hobbys. Die z.T. lähmende Erschöpfung und die psychischen Auswirkungen machen mir zu schaffen. Zudem fühle ich mich durch die Schmerzen in den Füßen behindert, denn ich gehe täglich mit meinem Hund rund 1,5 Stunden spazieren, an Wochenenden und im Urlaub auch gerne wandern. Da ich aktuell aufgrund des erhöhten Blutdrucks versuche, auf Schmerzmittel zu verzichten, wird die Freude an diesen Aktivitäten und damit auch meine Lebensqualität massiv eingeschränkt.
Grad der Behinderung
Ende 2017 beantragte ich die Feststellung des Grads der Behinderung. Aktuell läuft das Widerspruch-Verfahren. Mein Hämatologe hatte mich leider nicht über diese Möglichkeit informiert – ich bin erst über das MPN-Forum und weitere Quellen darauf gekommen.
Ich habe mehrere Monate mit mir gerungen, den Antrag zu stellen, da ich (trotz meiner Fortschritte in der Psychotherapie) folgende Sätze im Kopf hatte: „Stell dich nicht so an!“ und „Du hast nur eine ET, andere hat es viel schlimmer getroffen.“ Hinzu kam das Gefühl, der Erkrankung durch die „amtliche Bestätigung“ noch mehr Gewicht zu geben.
Mein Hämatologe befürwortete diesen Schritt. Diese wieder konkrete Auseinandersetzung mit meiner Erkrankung belastet mich zusätzlich.
Stand: September 2018