Essentielle Thrombozythämie (ET)

Katrin, *1975, ET seit 2015

Beitrag vom

Wie alles begann

Seit Anfang 2015 hatte ich oft langanhaltende, immer stärker werdende Sehstörungen, abends Schmerzen in den Fingerendgliedern und z.T. den Zehen, manchmal auch Kopfschmerzen. Der Augenarzt schloss eine Augenerkrankung aus und vermutete Migräne, er empfahl die Abklärung beim Hausarzt und/oder Neurologen.
Im Blutbild beim Hausarzt fielen hohe Thrombozyten-Werte auf. Ich bekam Überweisungen zum Neurologen und zum Hämatologen. Der Neurologe diagnostizierte für Aura und Fingerschmerzen als Ursache eine Migräne. Unterstützt wurde diese Diagnose durch die Tatsache, dass meine Eltern Migränepatienten
sind bzw. waren und ich als Kind ebenfalls an Migräne litt. Ein MRT des Kopfes blieb ohne Befund.

.

Diagnose der ET

Gleich bei meinem ersten Termin machte der Hämatologe direkt eine Knochenmarkpunktion (KMP), um die von ihm vermutete Essentielle Thrombozythämie (ET) zu bestätigen. Ich war psychisch total überfordert von der Diagnose, der dreiwöchigen Wartezeit auf den Befund der KMP und meinen Recherchen im Internet. In dieser Zeit war mir mein Mann eine große Unterstützung. Die Diagnose ET wurde bestätigt, zumal auch eine JAK2-Mutation vorlag.

Den Hinweis auf Migräne-Aura und Fingerschmerzen speicherte der Hämatologe als Migräne ab. Die Therapie bestand zunächst in Watch & Wait mit der Gabe von ASS 100. Sobald mein Thrombozyten-Wert über 1 Million läge, sollte ich Anagrelid bekommen. Ob in dieser Zeit die Symptome abklangen, weiß ich nicht mehr.

Zellreduktive Therapie

Ende November 2015 war der Wert auf über eine Million angestiegen. Seitdem nehme ich Xagrid (Wirkstoff: Anagrelid), die ersten zwei Wochen parallel mit ASS 100, bis sichergestellt war, dass der Wert wie gewünscht sank. Nach zwei Wochen hatte ich mich an die Palpitationen und die erhöhte Herzfrequenz nach der Einnahme gewöhnt. Seit Anfang 2016 hatte ich aber wieder deutlich vermehrt Migräne-Aura und tägliche Fingerschmerzen, obwohl die Thrombozyten nur bei knapp 600.000 lagen. Ohne Schmerzmittel (Ibuprofen)
konnte ich nicht schlafen bzw. wurde vom Schmerz geweckt.

Die vermutete Ursache sah ich in einer Nebenwirkung des Xagrid. Nach Rücksprache mit meinem Hämatologen, setzte ich das Medikament für 1,5 Wochen ab und ging zur Abklärung eventueller anderer Ursachen zum Neurologen. Der Neurologe befand, der Fingerschmerz habe keine neurologische Ursache und die Migräne-Aura sei nicht beeinflussbar. Der Hämatologe wiederum sah die Symptome nicht in einer Nebenwirkung des Xagrids.

Da meine Thrombozyten innerhalb dieser 1,5 Wochen wieder über 1 Million anstiegen, sollte ich das Medikament unbedingt wieder einnehmen. Den Fingerschmerz solle ich mithilfe von Schmerzmitteln (Ibu) „aussitzen“ und beobachten und erst einmal keine weiteren Fachärzte aufsuchen, um zur Ruhe zu kommen.

Hilfreiche Infos im MPN-Forum

Nach längerer Überlegung meldete ich mich im März 2016 im MPN-Forum an und erhielt prompt die Rückmeldung, dass Fingerschmerz und Migräne-Aura typische ET-Symptome sind. Seitdem ich nun weiß, dass sie typisch für ET sind, bin ich deutlich entspannter.

Zuvor hatte ich mich sehr hilflos gefühlt, da ich eine Ärzteodyssee hinter mir hatte, ohne dass man mir helfen oder konkrete Infos geben konnte. Ich machte zudem die Erfahrung, dass viele Ärzte die seltene Krankheit ET nicht kennen.

Therapie-Verlauf

Da die Symptome stärker wurden, überprüfte man Mitte 2016 meine Rheumawerte, auch aufgrund einer familiären Vorbelastung. Sie sind zwar etwas erhöht, jedoch nicht signifikant – daher keine Ursache für meine Schmerzproblematik. Der Anstieg der Migräne-Symptome sei auf beruflichen Stress zurückzuführen.

Nach einer Erhöhung der Xagrid-Dosis von 2 auf 3 täglich, aufgrund meiner zuvor wieder gestiegenen Thrombozyten-Werte, lagen diese erstmals wieder im Normbereich und die Symptome (Aura, Schmerzen) waren weg. Kommentar meines Hämatologen: „Dann lagen die Symptome wohl doch am zu hohen Thrombozyten-Wert.“

Hilfe durch eine Psychotherapie

Bis Frühjahr 2017 ging es mir körperlich gut, denn ich merkte kaum Symptome, außer gelegentlichen, erträglichen Schmerzen in den Zehen und Müdigkeit. Aber meine Psyche machte mir zu schaffen. Ich wachte jede Nacht auf, weil ich glaubte, die Einnahme eines Medikaments vergessen zu haben. Erst der Blick in den Badezimmerschrank half mir zu erkennen, dass es kein zusätzliches Medikament einzunehmen gab. Mein Hämatologe empfahl eine Psychotherapie, um mit der Erkrankung besser umgehen und leben zu können.

Eine gute Entscheidung, denn die Therapie half. Inzwischen habe ich gelernt, meine Erkrankung als einen Teil meines Selbst anzuerkennen. Sie steht nicht mehr im Vordergrund. Ausnahme: Wenn beständig Symptome auftreten oder ich mich anderweitig intensiv mit der ET befassen muss, ist sie wieder voll präsent. Am liebsten wäre mir, brav mein Medikament einzunehmen und die Quartalskontrollen zu absolvieren – und ansonsten Ruhe zu haben.

Wieder verstärkte Symptome und Dosiserhöhung

Mitte 2017 waren die Thrombozyten wieder oberhalb der Normgrenze, nämlich bei 539.000. Das ist generell für meine Hämatologen ok, für meinen Körper offenbar jedoch nicht. Ich hatte täglich 30 Minuten bis zu mehreren Stunden Schmerzen in den Füßen, an Fersen, Rist und Sprunggelenk, unabhängig von Schuhwerk, Tageszeit und Belastung. Das war eigentlich nur mit Ibuprofen auszuhalten. Die Ärzte-Odyssee begann erneut, was mich psychisch erneut deutlich belastete. Vom Hausarzt zum Orthopäden, zum Radiologen, zum Immunologen, zum Neurologen und zurück. Sonografie, Röntgen und MRT ohne Befund, weder rheumatische
Erkrankung oder Sehnenentzündung noch neurologische Problematik. Insgesamt hatte ich das Gefühl, mein Körper „versagt“.

Da mein Thrombozyten-Wert Anfang 2018 weiterhin bei rund 550.000 lag, stellte mein Hämatologe mir drei Optionen zur Wahl:

  • Xagrid auf 4 täglich erhöhen (also 2 mg) – sein und auch mein Favorit
  • Xagrid und Litalir
  • Interferon – ungünstig, da ich bereits psychisch belastet bin

Die erste Woche mit der erhöhten Dosierung von Xagrid war schwer, ich hatte täglich Kopfschmerzen und Nasenbluten. Nach drei Wochen zeigte sich der Erfolg, der Thrombozyten-Wert lag im Normbereich, ich hatte keine Symptome mehr. Allerdings drängte sich mir die Frage auf: Was, wenn ich in einem Jahr wieder die Dosis
erhöhen muss, so wie 2016? Mein Hämatologe meinte: Erst einmal abwarten. Sollte dieser Fall wirklich eintreten, muss die Medikation generell neu überdacht werden.

Wechselnde Medikation

Mitte 2018 zeigte sich: Täglich 4 Xagrid waren zu viel, denn meine Thrombozyten lagen nur noch bei 112.000. Außerdem hatte ich Ödeme in Knöcheln und Füßen – eine Nebenwirkung des Medikaments. Also wurde die Dosis auf 3 täglich (also 1,5 mg) zurückgesetzt. Damit war ich bei der nächsten Quartalskontrolle wieder bei gut 500.000 Thrombozyten angelangt.

Ich habe seitdem wieder täglich Schmerzen in den Füßen, selten auch in den Fingern. Die Migräne-Aura taucht mehrmals pro Monat auf. Aber ich versuche, keine Schmerzmittel zu nehmen. Die Schmerzen belasten mich aber sehr. Von September 2018 bis Januar 2019 sollte ich täglich 3 Kapseln Xagrid plus eine Tablette Syrea (Hydroxycarbamid 500 mg pro 1 Kapsel) einnehmen. Körperlich ging es mir mit dieser Medikation sehr gut: Endlich hatte ich keine Schmerzen mehr.

Aber psychisch belastete mich die Einnahme einer oralen Chemotherapie doch ziemlich: Laut Packungsanweisung darf ich das Präparat nicht mit bloßen Händen anfassen, aber schlucken soll ich es. Das bereitete mir Sorgen. Weil diese Medikation überkompensierte und meine Thromboythen-Werte mit 100.000 zu niedrig wurden, sollte ich 2019 wieder auf Syrea verzichten. Seitdem hatte ich wieder wechselnde Dosen von Xagrid einzunehmen. Aktuell bin ich bei täglich 3 Kapseln angelangt, mein Thrombozythen-Wert ist seit einigen Monaten stabil bei rund 400.000.

Nebenwirkungen

Ein weiteres Problem ist 2018 aufgetaucht: Ich habe erhöhten Blutdruck (Nichtraucher, schlank, sportlich). Ich muss nun einmal jährlich zur Kontrolle zum Nephrologen (24-Blutdruckmessung, Sonographie von Herz und großen Blutgefäßen). Medikation: 10mg Ramipril (also die Höchstdosis) plus 5mg Amlodipin (ab Temperaturen über 20°C muss ich es weglassen, weil ich ansonsten zu niedrigen Blutdruck habe). Vor allem im Sommer habe ich trotz Bewegung abends Ödeme an den Fußknöcheln.

Mein Nephrologe und auch der Hämatologe vermuten, dass der hohe Blutdruck eine Nebenwirkung des Xagrids ist, weil ich keinerlei Veranlagung zu Bluthochdruck habe. Meine Psyche ist von diesem Problem nicht begeistert.

Auswirkungen auf den Alltag

Ich bin Vollzeit berufstätig, außerdem habe ich Hobbys. Die z.T. lähmende Erschöpfung und die psychischen Auswirkungen machen mir zu schaffen. Zudem fühle ich mich durch die Schmerzen in den Füßen behindert, denn ich gehe täglich spazieren, an Wochenenden und im Urlaub auch gerne den ganzen Tag lang wandern, mehrmals die Woche nehme ich Reitstunden und helfe im Reitstall. Da ich aufgrund des erhöhten Blutdrucks versuche, auf Schmerzmittel zu verzichten, wird die Freude an diesen Aktivitäten und damit auch meine
Lebensqualität massiv eingeschränkt. Außerdem machen mir die Migräne und wiederkehrende Depressionen zu schaffen: Dann falle ich komplett aus, sowohl beruflich als auch privat.

Corona-Pandemie

Die Pandemie sorgte bei mir für ziemlich große Sorgen: Zum einen hatte ich Angst vor einer Covid-Infektion (blieb mir bis heute zum Glück erspart), weshalb ich mich dringend um die Impfungen bemühte. Zum anderen machte sie mir beruflich (freischaffend im Medienbereich) ziemlich zu schaffen.

Zudem schockierte mich die Ignoranz vieler Menschen gegenüber den Sorgen chronisch Kranker.

Grad der Behinderung

Ende 2017 beantragte ich die Feststellung des Grads der Behinderung. Nach dem Widerspruch-Verfahren wurde ein GdB von 50 festgestellt (ET, Migräne, seelische Erkrankung). Mein Hämatologe hatte mich leider nicht über diese Möglichkeit informiert – ich bin erst über das MPN-Forum und weitere Quellen darauf gekommen.

Ich habe mehrere Monate mit mir gerungen, den Antrag zu stellen, da ich (trotz meiner Fortschritte in der Psychotherapie) folgende Sätze im Kopf hatte: „Stell dich nicht so an!“ und „Du hast nur eine ET, andere hat es viel schlimmer getroffen.“ Hinzu kam das Gefühl, der Erkrankung durch die „amtliche Bestätigung“ noch mehr Gewicht zu geben. Diese wieder konkrete Auseinandersetzung mit meiner Erkrankung belastet mich zusätzlich.

Aktuell läuft die Prüfung – und erneut das Widerspruch-Verfahren meins GdB. Rechtlicher Hintergrund: Der Status wird alle fünf Jahr geprüft, nur in Ausnahmefällen wird dauerhaft ein GdB festgestellt. Zum Glück habe ich hier erneut Unterstützung vom Sozialverband VdK, bei dem ich seit 2017 Mitglied bin.

Stand: Juli 2023