Aufgrund eines Bandscheibenvorfalls 2003 war ich zu einer Rehamaßnahme. Dort wurde routinemäßig als Eingangsuntersuchung ein großes Blutbild erstellt und der Wert meiner Thrombozyten war mit über 700.000 viel zu hoch. Zunächst erklärte man mir, das könne schon mal passieren, wahrscheinlich sei die Messung nicht ordnungsgemäß gewesen. Also ein zweiter Versuch – allerdings leider mit dem gleichen Ergebnis.
Überweisung zum Hämatologen
Ein ungutes Gefühl bekam ich da schon, die Kurärzte hatten keine Ahnung und das Internet half mir auch nicht weiter. Nach der Reha also zum Hausarzt, der mich direkt zum Onkologen/Hämatologen überwies. Heute weiß ich, dass ich froh sein kann, dass mein Hausarzt sofort richtig reagierte, damals hat mir allein der Begriff Onkologe eine Heidenangst gemacht. Auch hier hatte ich wieder das Glück, dass sofort alle erforderlichen Untersuchungen (Knochenmarkpunktion, Beckenstanze, u.a.) gemacht wurden und damit relativ schnell feststand, dass ich an einer ET leide. Zu diesem Zeitpunkt war ich dann über die Diagnose fast froh, da die anderen Möglichkeiten (z. B. Leukämie) mich doch sehr beunruhigt hatten.
Plötzlich erklärlich – die starke Müdigkeit
Nun hatte das Kind einen Namen und ich konnte mich endlich im Internet an den richtigen Stellen informieren. Dies war teilweise sehr beängstigend, da in diesem Zusammenhang immer wieder das Wort Blutkrebs auftauchte. Gott sei Dank bin ich dann auf das mpn-netzwerk gestoßen und endlich bekam ich wirklich brauchbare und verständliche Informationen. Viele Symptome der letzen Jahre, die ich bisher dem Alter zugeschoben hatte, ließen sich nun durch die ET erklären, insbesondere die starke Müdigkeit.
Intensive Auseinandersetzung mit der Krankheit
Das Auseinandersetzen mit der Krankheit bedeutet für mich auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit. Da zu diesem Zeitpunkt meine beiden Kinder noch recht klein waren, hat mich das die ersten Monate sehr belastet. Auch die regelmäßigen Blutkontrollen beim Hämatologen/Onkologen waren bei mir zunächst immer mit schlaflosen Nächten, Unruhe und Bauchschmerzen verbunden. Gott sei Dank gewöhnt man sich an alles und so kann ich inzwischen doch sehr entkrampft meinen Hämatologen aufsuchen.
Beginn einer zellreduzierenden Therapie
Nachdem meine Thrombozyten-Werte sich stetig nach oben entwickelten, musste ich dann im April 2006 – bei Werten von rd. 1,6 Mio – mit einer zellreduzierenden Therapie beginnen. Die Entscheidung für eines der drei in Frage kommenden Medikamente (Litalir, Anagrelid oder Interferon) war für mich sehr schwer. Irgendwie hatte ich das Gefühl, mich zwischen Pest und Cholera entscheiden zu müssen. Dazu kam, dass ich bis zu diesem Zeitpunkt, außer der Müdigkeit und der geringen Belastbarkeit, nahezu beschwerdefrei war.
Entscheidung für Therapie mit Interferon
Über das Netzwerk bekam ich viele Informationen und immer Antworten auf meine Fragen, so dass ich mich letztendlich für eine Behandlung mit Interferon (Roferon) entschieden habe. Mit der Medikamenteneinnahme ging es mir dann zunächst schlechter als vorher, aber die Nebenwirkungen waren immer zu ertragen. Nachdem ich auf tägliches Spritzen umgestellt hatte (vorher 3x die Woche) wurden die Nebenwirkungen deutlich weniger.
Reduzierung des Spritzen-Intervalls
Noch weniger Nebenwirkungen hatte ich, nachdem ich auf das nur wöchentlich zu spritzende PegIntron umgestiegen war. Gleichzeitig war die Wirksamkeit sogar wesentlich besser, so dass ich die Dosis fortlaufend verringern konnte. Meine Werte sind erst unter der Behandlung mit PegIntron in den Normbereich gesunken. Nachdem ich zunächst mit 50μg/Woche PegIntron begonnen hatte, konnte ich die Dosis mit den Jahren auf nur noch 30 μg/alle 9 Tage reduzieren und die Werte damit stabil halten.
Dass ich nun nicht mehr täglich spritzen musste, war ein Segen. Das Spritzen selbst war für mich zwar unproblematisch, aber die tägliche Notwendigkeit war schon nervig. Zumal ich die Spritzen ständig – für jeden Kurzurlaub – mitnehmen musste und diese ja auch gekühlt werden müssen. Das hatte mich schon arg eingeschränkt.
Psychische und physische Auswirkungen
Akute Nebenwirkungen hatte ich durch das Interferon eigentlich nicht, eher so diffuse Beschwerden, die sich im Jahre 2013 deutlich verstärkten und mich immer mehr einschränkten. Ich war sehr müde, antriebslos, depressiv, ängstlich und hatte häufig Rückenschmerzen, die – wie es mir schien – auch psychisch beeinflusst waren. Meine psychische Verfassung war sicher auch durch meine zu diesem Zeitpunkt sehr belastenden persönlichen Lebensumstände geprägt, ich vermute allerdings, dass diese durch das PegIntron mitverursacht/verstärkt wurden. Im Juli 2013 musste ich dann wegen einer manifesten Depression die PegIntrontherapie abbrechen. Ohne dass sich an meinen Lebensumständen gravierendes verbessert hatte, hat sich meine psychische Verfassung nach dem Absetzen relativ schnell verbessert, so dass ein Zusammenhang mit dem PegIntron schon sehr wahrscheinlich ist. Seither, also schon fast 10 Jahre, nehme ich keine Medikamente. Meine Thrombozyten sind die ersten Jahre stetig angestiegen, haben sich aber dann stabil bei rd. 1,1 Mio, eingependelt. Bei meiner letzten Messung im Juni 2023 hatte ich erstmals seit Jahren wieder Werte unter 1 Mio (rd. 0,9 Mio.). Ob dies ein Einzelfall bleibt oder aber vielleicht durch meine Ernährungsumstellung auf eine entzündungsarme Ernährung beeinflusst ist, bleibt abzuwarten. Meine Lebensumstände hatten sich seit 2013 wieder deutlich verbessert, auch meine psychische Verfassung war gut/stabil. Seit gut 2 Jahren leide ich jedoch an chronischen Schmerzen in der Hüfte/ISG/Ischias, die bis jetzt nicht in den Griff zu kriegen sind und mich zunehmend auch psychisch sehr belasten. Das dürfte aber nichts mit der ET zu tun haben. Hier sind die Werte stabil und auch ansonsten, abgesehen von gelegentlichen Sehstörungen, ohne größere Einschränkungen. Auf Grund meiner Schmerzproblematik bin ich mit Abzügen frühzeitig in Altersteilzeit gegangen und befinde mich jetzt in der Ruhephase, so dass ich auch mit der nicht ganz so hohen Belastbarkeit und schnelleren Ermüdung keine Probleme mehr habe.
Erst wenn meine Thrombozyten die Schallgrenze von 1,5 Mio wieder überschreiten, würde ich einen erneuten Therapieversuch, wieder mit einem Interferon starten, dann aber sehr
aufmerksam auf evtl. Hinweise auf Depressionen achten, um frühzeitig gegensteuern zu können.
Die Krankheit akzeptiert
Insgesamt habe ich mich mit meiner Krankheit arrangiert und mich daran gewöhnt, dass ich häufiger Ruhepausen benötige. Nachdem ich meine Arbeitszeit im Zuge der Depression auf 70 % reduziert hatte, konnte ich diese wieder auf die vorherigen 80 % erhöhen und kam damit gut zurecht. 100 % wäre allerdings nicht schaffbar gewesen. Da ich seit 2022 nicht mehr arbeite, kann ich mir das nun sehr gut einteilen und spüre kaum noch Einschränkungen durch die ET. Gedanken über die weitere Entwicklung meiner Krankheit mache ich mir nur noch selten – man gewöhnt sich halt wirklich an fast alles.
Ich lebe nun mittlerweile seit rd. 20 Jahren mit meiner ET. Mein größter Feind zu Beginn war die Angst vor der Erkrankung, nicht die Symptome der Krankheit. Inzwischen habe ich meine Ängste doch sehr reduzieren können.
Das mpn-netzwerk habe ich anfangs sehr viel genutzt und war mir eine große Stütze und riesengroße Informationshilfe. In den letzten Jahren setze ich mich nur noch wenig mit der Krankheit auseinander und nutze das Netzwerk nur noch, wenn ich bestimmte Informationen benötige oder neue Therapiemöglichkeiten recherchieren möchte.
Ärzte nicht immer gut informiert
Da es sich bei der ET um eine derzeit noch recht seltene Erkrankung handelt, sind die Ärzte leider oft nicht immer auf dem neuesten Stand und es ist unbedingt notwendig, selbst gut informiert zu sein, um dem Arzt manchmal einen Tipp geben zu können oder bestimmte Dinge für sich selbst einzufordern. Nur dadurch habe ich letztendlich meinen Hämatologen seinerzeit davon überzeugen können, mir das PegIntron zu verschreiben. Für mich bedeutete das zum damaligen Zeitpunkt sehr viel mehr Lebensqualität.
Neben dem regelmäßigen Besuch bei meinem ortsansässigen Hämatologen fahre ich seit 2015 1x im Jahr im Rahmen einer Studie zu einem Spezialisten (Dr. Grießhammer in Minden). Dies gibt mir auch eine gewisse Sicherheit bzgl. der Einschätzung des Krankheitsverlaufs und der nunmehr schon 10-jährigen Therapiepause. Wenn ich Glück habe, bleiben meine Thrombozyten noch lange auf einem stabilen und nicht behandlungsbedürftigen Niveau. Ich bin der festen Überzeugung, dass ich dies der jahrelangen Interferontherapie zu verdanken habe.
Stand: Juni 2023